Weihnachten unter Tage oder Was die Bergbehörde nicht erfahren durfte
Herbert Hengefeld
Für den Bergmann begann Weihnachten früher schon Ende Oktober. Dann konnte man bereits Vorbereitungen treffen für den November, den Monat, welcher gute Abschläge und einen weihnachtlichen Restlohn für die Feiertage garantierte. Doch im elften Monat griff unter Tage auch ein anderes Fieber um sich: die Furcht, Weihnachten nicht gesund zu erleben. Aus dieser Furcht heraus ist auch das hier wiedergegebene Geschehen zu verstehen. War die letzte Schicht vor Weihnachten verfahren, konnte man aufatmen, nun konnte nichts mehr passieren.
So wird auch Richard gedacht haben, wohlbestallter Vorarbeiter im Lokschuppen auf der vierten Sohle. Richard besaß ein ausgezeichnetes Organisationstalent, er versorgte seinen Lokschuppen stets mit mehr als dem Nötigsten und teilte seinen Mitarbeitern die Arbeit ein. War das geschehen, war meist die Schicht zur Hälfte um. Für die zweite Schichthälfte füllten höhere Aufgaben oft seine Zeit aus, aber auch erneutes Organisieren. Die höheren Aufgaben bestanden aus dem Hin- und Herfahren von leitenden Führungskräften, etwa ab Obersteiger. Dies geschah ganz unkonventionell, nein, kein Personenzug, nein, Richard packte die Herrschaften auf den Notsitz seiner Luftlok und kutschierte sie wunschgemäß. Klar, daß sich bei diesem engen Beieinandersein mit allen ein gewisses Vertrauensverhältnis entwickelte.
Wohin das zu Weihnachten führte, ist schnell erzählt: Wieder war die letzte Schicht angebrochen, und was lag im fast leeren Werkstattwagen für den Lokschuppen? – Ein gutgewachsenes Tannenbäumchen, noch nach Wald duftend. Etwas Lametta war auch zur Hand, schnell war das Bäumchen etwas abseits aller neugierigen Blicke aufgestellt, und Feiertagsatmosphäre herrschte bei Richard. Allerdings mußte er vor Beginn der untertägigen Weihnachtsstunde noch schnell den Ollen, den Betriebsführer, aus dem Bau holen und zum Schacht bringen. Meist rief dieser so kurz vor elf an, um abgeholt zu werden. So auch heute; kurz nach elf erreichte Richard mit ihm den Schuppen am Schacht, und was geschah, klingt unglaublich, ist aber wahr: Süßholz raspelnd bat Richard den Alten, doch seiner internen Feierstunde beizuwohnen und mit ihnen unter Tage ein Weihnachtslied zu singen. Und der Betriebsführer, ein wahrer Menschenfreund, blieb. Der Bremser vom benachbarten Blindschacht intonierte auf der Mundharmonika Stille Nacht, heilige Nacht, und alle sangen inbrünstig mit. Während des Singens entnahm Richard seinem Spind eine gute Flasche Weinbrand und bot zunächst dem Alten ein Gläschen an. Ein wenig überrumpelt, doch verschmitzt lächelnd nahm dieser das Glas und sagte, bevor er es trank, zu Richard, indem er ihn streng dienstlich nur mit dem Nachnamen ansprach: „Sie sind mir dafür verantwortlich, daß jeder nur ein Gläschen bekommt.“ Und schon klang ihm gleichzeitig und einstimmig ein „Selbstverständlich, Herr Betriebsführer“ entgegen. Damit verließ der Alte nach den üblichen weihnachtlichen Wünschen die kleine Runde, um auszufahren.
Bleibt nur noch nachzutragen, daß alle Beteiligten sich an das Gebot hielten, diszipliniert zu Tage kamen und ein gesundes Weihnachtsfest verlebten.
Quelle: Schichtwechsel – Erinnerungen zu Tage gefördert – Herausgegeben von Annette Goebel und vom Traineeprogramm Verlagswesen 1997
Das Redaktions- und Archivteam des Heimatvereins wünscht Glück Auf,
Frohe Weihnachten 2024 und einen guten Rutsch in’s neue Jahr.