Kaum jemand von uns hat noch gelernt Plattdeutsch zu sprechen. Was einmal ganz normal war, ist heute – zumindest hier bei uns – fast gänzlich aus dem Leben verschwunden. Es gab früher unzählige regionale Dialekte. Auch in Bodelschwingh. Unser Mitglied Friedhelm Kopperschläger fand einen Text von Rektor Schopohl in einer plattdeutschen Übersetzung von Änne Dunschen. Viel Spaß beim Lesen der Geschichte:
Wat man in Bolswingh van 1810 bis 1815 vertallt
Van Rektor Schopohl, Bolswingh. (Int Plattdütsche översatt van Änne Dunschen)
De Kötter Tösmann in Bolswingh ha nen Suohn, nen ördentlicken, stillen, flietigen Jungen. He was Vadders Stolt un Huopnung. Siene Moder was met iähm nich tefriän, he was iähr te ruhig. „Jung“, sagg se, „eck wuoll, du wörst do, wo de Piäpper Wässt!“
1810 – De Korse bruken Suldaoten – Suldaoten! Einet Dags kam dann de „Strickridder“ (So sagg me föer de franzoisischen Schandarmen) op Tössmanns Huoff, un se nahmen diän knapp 18 Jaohre ollen Jungen met. De Träönen van de Moder, de stille Graom van diäm Vadder, de Pien van Bröers un Süstern, – Se alle konnen do nix dran ännern. Ees nao nem Jaohr kreigen se ne Noahricht van iähm – ut Spanien! „Moder“, schreiw he, „Dien Wunsch es nu erfüllt; eck bün nu dao, wo de Piäpper wässt.“
Trü nao Westfaolenaort dao he auk dao siene Plicht. Dat Liäwen in de Früemde Wöer vör iähm jao biätter wiast, wann he nich de Sehnsucht nao de Häime hatt hä.
Einmaol hetten et: „Tösmann auf Wache!“ De Kameroaden bemitleiden iähm. Van diäm Posten, wo he optrecken sall, wören al drei daut trüggekommen. Optrecken! Afleusen! En Blick op de Ümgiegend! Een Gedanke anne Häime! Angst kennt he nich. He kennt aower dat Schicksal van siene Kameraoden. Iähm blaiht et auk. Et weerd düster. Deipe Stille ringsümhiär. Dao kiekt he noch maol trügg op sien Liäwen un riäcknet af met diäm, de iähm sien Liäwen gegafft ha.
Nu worden Auge un Ohr gespannt. Irgendwo bewiägen sick wat. He glow, de Richtung gefunnen te hebben un dreien sick üm. Dao – Blitz un Knall! He kriegt nen Schlag op dat Koppelschluott. Dat giewt nen Ruck, aower et schmiett iähm nich üm. Nu bohrt sick sien Auge int Düster, op de Stiee, wo et flammte. He hört: Iesen rieft sick an Iesen. De Fiend lädt nigge. Dao bewiägt sick wat. Im Augenblick flügt sien Gewehr an de Backe, Stein un Staohl Funke un Füer! Dump dröhnt en Schuß düör de Nacht. Stille, deipe Stille.
As man Tösmann afleust, liggt achter nen kleinen Hüeggel en spanischen Buer. Fast ümklammert siene stiewen Hänne noch de kolle Wape. Tösmann kriegt nen Orden. Erst 1815, as al längst Frieden was, kam he nao Huse trügge met ne Riege franzoisische Orden op de Borst. Fief Jaohre ha he im Dienst van Früemdlinge in de Früemde gestaohn. Prüßen ha intüschen de allgemeine Wehrpflicht in ingefeuhrt, un nu mogg he noch drei Jaohre bie die Prüßen kloppen. Tösmann es ümmer nen stillen Mann gebliewen. Siene Orden hädden van siene Taten vertellen können, aower he dao et nich. Met de Orden spiälen siene Enkel.
1812 – Zug nao Rußland! Suldaoten! Bolswingh stellt drei Mann. De Marsch geiht nao Hameln anne Weser. Dao lagert de Kumpanei in nem grauten Huoff. De Muer es haug. Anne Paote steiht en Posten. En junger Offzier mäkt de Runne. He kömmt in diän Huoff. „“Möllmann!“ – „Herr Leutnant!“ Im Schatten van de Muer flusterts: „Dies ist die letzte Gelegenheit. Verstehst du mich?“ „Jawoll, Herr Leutnant!“ En warmen Händedruck. Am annern Muorgen es de Kumpanei verschwunnen. Nich in diän Biärg, wie freuher de Blagen van Hameln! An de Weser es dichtet Buschwiärk. Op Müllmanns Huoff was ne Dakkammer, dao lagg noch vör wennigen Jaohren en ollen franzoisischen Tornister. Inne Ecke stonn noch de wuormstickige Schaft van en franzoisischen Püster.
Narath – de Besitzung lagg niebben Tösmanns Huoff – mogg auk nen Suohn stellen. He schreiw tem lessten Maol, as he öwer de russische Grenze gong. – Nüemms hät wier van iähm gehaort.
Auk en jungen Völkmann mogg met nao Rußland. He waor krank in nRußland, waor trüggebracht un starf im Lazarett tau Frankfurt a.d.O. un es dao begraben waorden.
1813 – Wier fong dat graute Morden an. Aower nu gong et nich üm de Rechte van frümde Härrn. Nu golt et, de Frieheit te erringen. Un se waoren dobie, de „Käls ut lesen“. We nennt iähre Namen! Allen voran de junge Här van Bolswingh! Aower de annern? Inne Mule van de Ollen liäwt noch Lehmkühlers Husar, en Ahnen van Stellmaker Raulf. De hat dian ersten un twedden Krieg metgemakt un nao 1870 de „Wacht am Rhein“ gesungen. De vertallt gähne vom Krieg. Bi ne Kinddaup kümmt he op de Lüseplaoge te küren. De Här Pastauer Göbel, diäm dat Thema nich passen, sagg: „Aber Herr Lehmkühler!“ „Wat“, röpt Lehmkühlers Husar, „It wett dat nich gläuwen, Herr Pastauer? Lüs hadden wi, säo graut… as düese Piäpperdause!“ Dao schweig de Pastauer.
De Baron van Bolswingh waor bi Ligny verwunned döer nen Schullerhieb. Trösken ut Mengede fand iähm un schliept iähm in diän Kuhstall van en Buernhues, dat al met Verwunneten vull was. Hen un hiär geiht de Kampf; de Franzausen niemmt dat Hues. Einer süht de lange silverne Halskiette van diem Offzier. In de Iele riett he iähm de Kiette af, aower he riett se de Länge naoh düör de schwaore Schullerwunne. Aowends söcht un findt Trösken sienen half verbloten Leutnant un sorgt füör iähm. – De Här v. Bolswingh was iähm daofüör dankbar. Tietliäbens ha he ne Wiesche in Mengede pachtfrie.
De Baron beholl sien Liäwen lang nen stiewen Arm. In den Schlacht bis Issy in Frankriek foll nu am 3. Juli 1815 de Buer Möllmann, de Desserteur van Hameln.
Op wieder, früemder Aue,
dao liet ein Soldaot,
en ungetallt vergiettener…
Nee, vergiätten sallt se nich sien!
Hochdeutsche Übersetzung
Friedhelm Kopperschläger hat 2023 eine Rück-Übersetzung ins Hochdeutsche angefertigt. Dabei hielt er sich genau an die Plattdeutsche Urschrift, um die Originalität zu bewahren. Konnten Sie den Plattdeutschen Text problemlos lesen und verstehen? Falls nicht, hier nun die Hochdeutsche Version.
Was man in Bodelschwingh von 1810 bis 1815 erzählt
Von Rektor Schopohl (1), Bodelschwingh. Ins Plattdeutsche übersetzt von Änne Dunschen. Im Jahre 2023 zurück übersetzt ins Hochdeutsche und mit Anmerkungen versehen von Friedhelm Kopperschläger.
Der Kötter (2) Tösmann in Bodelschwingh hat einen Sohn, einen ordentlichen, stillen, fleißigen Jungen. Er war Vaters Stolz und Hoffnung. Seine Mutter war mit ihm nicht zufrieden, er war ihr zu ruhig. „Jung“, sagte sie, „ich will, du wärst da, wo der Pfeffer wächst!“
1810 – Der Korse (3) braucht Soldaten! Eines Tages kamen dann die „Strickreiter“ (4) (so sagt man für die französischen Gendarmen) auf Tösmanns Hof, und sie nahmen den knapp 18 Jahre alten Jungen mit. Die Tränen von der Mutter, der stille Gram von seinem Vater, die Pein von Brüdern und Schwestern, – sie alle konnten nichts daran ändern. Erst nach einem Jahr kriegten sie eine Nachricht von ihm – aus Spanien! „Mutter“, schreibt er, „Dein Wunsch ist nun erfüllt; ich bin nun da, wo der Pfeffer wächst.“
Treu nach Westfalenart tut er auch da seine Pflicht. Das Leben in der Fremde wäre für ihn ja besser gewesen, wenn er nicht die Sehnsucht nach zu Hause gehabt hätte.
Einmal hieß es: „Tösmann auf Wache!“. Die Kameraden bemitleiden ihn. Von diesem Posten, wo er antreten soll, waren alle drei tot zurückgekommen. Antreten! Ablösen! Ein Blick auf die Umgegend. Ein Gedanke an die Heimat! Angst kennt er nicht. Er kennt aber das Schicksal von seinen Kameraden; ihm blüht es auch. Es wird dunkel. Tiefe Stille rings umher. Da sieht er nochmal zurück auf sein Leben und rechnet ab mit denen, die ihm dieses Leben gegeben haben.
Nun werden Auge und Ohr gespannt. Irgendwo bewegt sich was. Er glaubt, die Richtung gefunden zu haben und dreht sich um. Da – Blitz und Knall! Er kriegt einen Schlag auf das Koppelschloss. Das gibt einen Ruck, aber es schmeißt ihn nicht um. Nun bohrt sich sein Auge ins Dunkel, auf die Stelle, wo es flammte. Er hört: Eisen reibt sich an Eisen. Der Feind lädt neu. Da bewegt sich was. Im Augenblick fliegt sein Gewehr an die Backe. Stein und Stahl! Funke und Feuer! Dumpf dröhnt ein Schuss durch die Nacht. Stille, tiefe Stille.
Als man Tösmann ablöst, liegt hinter einem kleinen Hügel ein spanischer Junge. Fest umklammern seine steifen Hände noch die kalte Waffe.
Tösmann kriegt einen Orden. Erst 1815, als längst Frieden war, kam er nach Hause und trug eine Reihe französischer Orden an der Brust. Fünf Jahre hat er im Dienst für die Fremdlinge in der Fremde gestanden. Preußen hat inzwischen die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, und nun muss er noch drei Jahre bei den Preußen kloppen (5). Tösmann ist immer ein stiller Mann geblieben. Seine Orden hätten von seinen Taten erzählen können, aber er tat es nicht. Mit den Orden spielen seine Enkel.
1812 – Zug nach Russland! Soldaten! Bodelschwingh stellt drei Männer. Der Marsch geht nach Hameln an der Weser. Dort lagert die Kumpanei (6) in einem großen Hof. Die Mauer ist hoch. Am Tor steht ein Posten. Ein junger Offizier macht die Runde. Er kommt in den Hof.
„M ö l l m a n n !“ – „Herr Leutnant!“ Im Schatten der Mauer flüstert es: „Dies ist die letzte Gelegenheit. Verstehst du mich?“ – „Jawohl, Herr Leutnant!“ Ein warmer Händedruck. Am anderen Morgen ist die Kumpanei verschwunden. Nicht in den Berg wie früher die Kinder von Hameln! An der Weser ist dichtes Buschwerk. Auf Möllmanns Hof war eine Dachkammer; da lag noch vor wenigen Jahren ein alter französischer Tornister. In der Ecke steht noch der wurmstichige Schaft von einem französischen Püster (7).
Narath – der Besitz liegt neben Tösmanns Hof – musste auch einen Sohn stellen. Er schreibt zum letzten Mal, dass er über die russische Grenze geht. – Niemals hat man wieder von ihm gehört.
Auch der Junge Völkmann musste mit nach Russland. Er wurde krank in Russland, wurde zurückgebracht, starb im Lazarett in Frankfurt an der Oder und ist dort begraben worden.
1813 – wieder fing das große Morden an. Aber nun ging es nicht um die Rechte von fremden Herren. Nun galt es, die Freiheit zu erringen. Und es waren dabei die „auserlesenen Kerle“. Wir nennen ihre Namen!
Allen voran der junge Herr von Bodelschwingh! – Und die anderen? In der Mühle, von den Alten lebt noch Lehmkühlers Husar, ein Vorfahre von Stellmacher Raulf. Der hat den ersten und zweiten Krieg mitgemacht und nach 1870 „Die Wacht am Rhein“ gesungen. Der erzählt gerne vom Krieg. Bei einer Kindtaufe kommt er auf die Läuseplage zu sprechen. Der Herr Pastor Göbel, dem das Thema nicht passt, sagt: „Aber Herr Lehmkühler!“ – „Was?“ ruft Lehmkühlers Husar, „Ihr werdet das nicht glauben, Herr Pastor! Läuse hatten wir, so groß, so groß… wie diese Pfefferdose!“ Da schwieg der Pastor.
Der Baron von Bodelschwingh war bei Ligny verwundet durch einen Schulterhieb. Trösken aus Mengede fand ihn und schleppte ihn in den Kuhstall von einem Bauernhaus, das mit Verwundeten voll war.
Hin und her geht der Kampf; die Franzosen nehmen das Haus. Einer sieht die lange silberne Halskette von dem Offizier. Eilig riss er ihm die Kette ab, aber er rieb sie der Länge nach durch die schwere Schulterwunde. Abends sucht und findet Trösken seinen halb verbluteten Leutnant und sorgt für ihn. – Der Herr von Bodelschwingh war ihm dafür dankbar. Zeitlebens hat er eine Weide in Mengede pachtfrei. Der Baron behielt sein Leben lang einen steifen Arm.
In der Schlacht bei Issy in Frankreich fiel am 03. Juli 1815 der Bauer Möllmann, der Deserteur von Hameln.
Auf weiter, fremder Aue,
da liegt ein Soldat,
ein unbekannt Vergessener,
nein, vergessen sollen sie nicht sein!
Anmerkungen:
- Schopohl – Rektor an der Freigrafenschule von 1897 bis 1932
- Kötter – Landwirt
- Der Korse – Napoleon I. (1769 bis 1821)
- Strickreiter – Berittene Häscher, die mit Leinen, Stricken oder Netzen Jagd auf junge Männer machten, um sie für Napoleons Armee zu rekrutieren
- Kloppen – Griffe am Gewehr klopfen – üben
- Kumpanei – Kameraden
- Püster – Gewehr
Bericht: Gerd Obermeit