von Helmut Gommen
(*1934) Schloßstraße, aufgeschrieben von Otto Schmidt im November 2008.
Die Nachbarschaft
Gegenüber unserem Haus steht ein Wohnhaus, in dem eifrige Nationalsozialisten (Parteigenossen) wohnten. Sie glaubten fast bis zum Schluss des Dritten Reiches, trotz Bombardierung und Hunger, an den Endsieg und Hitlers Wunderwaffen, von denen Gerüchte in Umlauf waren. Alle Bewohner von Bodelschwingh und Westerfilde hatten an den Fenstern Fahnenhalter angebracht. An den NS-Festtagen und -Feiern wurden hier Hakenkreuzfahnen eingesteckt. Zusätzlich war an unserem Nachbarhaus noch ein Emaille-Schild angebracht, auf dem zu lesen war:
Kommst Du als Deutscher hier herein, so soll Dein Gruß Heil Hitler sein.
Wenn wir als Kinder die Erwachsenen mit Guten Tag grüßten, wurden wir manchmal zurückgeschickt mit der Aufforderung, jetzt mit deutschem Gruß, also mit ausgestreckter rechter Hand und Arm und „Heil Hitler“ zu grüßen. Als Kind und im Krieg denkt man darüber nicht viel nach. Als älterer Mensch kommt einem das alles wieder zu Bewusstsein.
In meiner Nachbarschaft wohnte ein Junge, der sich „Frechheiten“ erlaubt hatte:
Er hatte einem Mann aus der Straße nachgeäfft, der im ersten Weltkrieg ein Bein verloren hatte und nur mit einer Beinprothese (Holzbein) und Gehhilfe (Krücke) laufen konnte. Der Mann hatte sich furchtbar aufgeregt und den Vater des Jungen zur Rede gestellt. Er drohte damit, ihn bei der Gestapo anzuzeigen, wenn er die Erziehung des Jungen „nicht in den Griff“ kriegen würde. Das würde er wohl wissen, wie er dann wiederkommen würde. Dem mutigen und beruhigenden Einfluss anderer Männer aus der Nachbarschaft war es zu verdanken, dass es nicht zur Anzeige kam. In der Angst um die Familie und um sich selbst hat der Vater den Jungen dann fürchterlich „verdroschen“.
Die Bomben
Anfang des Krieges fielen auch in Bodelschwingh die ersten Brandbomben. So wurde din unserer Straße auch ein Teil der Schreinerwerkstatt von Wilhelm Haumann getroffen. Das Wohnhaus und der Luftschutzkeller direkt hinter dem Haus war heil geblieben. Bei Bauer Möhlmann (gegenüber dem evangelischen Kindergarten Kinderbusch) war ein Teil des Bauernhauses getroffen. Bei dem Bauer Kattenstett in Niedernette war die Tochter durch Bomben zu Tode gekommen.
1941 hatte das Haus der Familie Fritz (gen. Knolz) Hagemann (Abzweig Schloßstraße / Bermesdicker Straße) einen Volltreffer abgekriegt. Hagemanns hatten keine Bleibe mehr. Mein Vater war Soldat, meine Geschwister und ich zu dieser Zeit in der Evakuierung in Balingen am Kaiserstuhl. Meine Mutter wohnte bei ihrem Vater in Wischlingen. So konnte die Familie Hagemann in unsere Wohnung ziehen.
Die Granaten
Kurz vor Ende des Krieges, am Freitag nach Ostern, lagen wir unter schwerem Granatbeschuss der Amerikaner. In Bodelschwingh hatten deutsche Soldaten Widerstand geleistet und zwei amerikanische Panzer abgeschossen. Daraufhin setzten die Amerikaner Artillerie ein (Flächenbeschuss). Unser Haus wurde auch getroffen. Frau Hagemann, ihr Sohn Friederich Wilhelm und die Großmutter kamen dabei ums Leben. Die Tochter Marga, die auf der Tenne mit dem Großvater Wilhelm Hagemann die Kuh fütterte, wurde von der Kellertür getroffen und, wie man früher sagte, hatte dann einen Schädelbasis-Bruch. Der Opa Wilhelm war unverletzt geblieben. Nach dem Beschuss wurden die Toten gesucht und gefunden. Nur die Tochter Marga blieb vermisst. Dann stellte es sich heraus, dass ein Soldat aus dem Stoßtrupp der vorrückenden Amerikaner das Mädchen gefunden und in ein Lazarett gebracht hatte. Nach einigen Wochen war Marga Hagemann wieder gesund.
Der Schaden an unserem Bauernhaus hielt sich in Grenzen:
Die Möbel aus unserem Wohnzimmer lagen im Keller, der Fußboden war eingebrochen, von den Außenwänden fehlte auch ein Teil.
Die Evakuierung
In unserem Haus wohnte der Stuckateur Adam Marks mit seiner Haushälterin Adele Lechtenfeld in einer Einlieger-Wohnung. 1942 oder im Sommer 1943, wurden meine vier Geschwister, Edith, Ingrid, Günter und Helma nach Baden evakuiert. Da meine Mutter unseren Schweinehandel weiter betrieb, war Frau Lechtenfeld anstelle meiner Mutter mitgefahren. Sie hatten zwei Zimmer in der Nähe von Balingen am Kaiserstuhl bekommen, in einem leer stehenden Gasthaus „Gasthaus Bad Silberbrunnen“. Die Zimmer lagen in der 1. Etage (die beiden rechten Fenster). Ich war zeitweise auch dort. Nach dem Krieg habe ich mir ein Bild davon besorgt (Postkarte). Gegen Kriegsende musste ich meiner Mutter dann zu Hause bei der Arbeit helfen und war ja ganz zum Schluss des Krieges noch Helfer bei der Luftabwehr im Sauerland (s. u.).
In dem Ort lebte ein Maler und Tapezierer. Der malte als Auftragsarbeit seine schöne Heimat mit dem Gasthaus, dem Ort Balingen und dem Kaiserstuhl im Hintergrund auf die Leinwand. Meine Mutter hat das Bild, das noch heute bei mir an der Wand hängt, gekauft. Ob sie in Reichsmark oder Speck und Schinken bezahlt hat, daran kann ich mich nicht erinnern.
Als Helfer im Betrieb
Mein Vater kämpfte als Soldat an der Ostfront. Meine Eltern hatten einen Schweinehandel, der als kriegswichtig anerkannt war. Deshalb blieb ich nicht in der Evakuierung.
Ich durfte bei meiner Mutter sein und musste ihr bei der schweren Arbeit helfen. Unser Auto, ein Opel P6, stand aufgebockt in der Garage. An eine Benzinzuteilung war nicht zu denken. Wir waren froh, dass unser Auto nicht für Kriegszwecke beschlagnahmt worden war. Für den Schweinetransport hatten wir ein Pony (Bubi) mit einem Pferdewagen.
Nach den Bombenangriffen auf Bodelschwingh und Westerfilde mussten die Toten gesammelt und beerdigt werden. Uns gegenüber wohnte ein SA-Mann, der wegen seiner Kriegsverletzung (Beinprothesenträger) nicht mehr wehrfähig war. Er musste die Särge, schmucklose Bretterkisten, von den Tischlern im Ort abholen. Dazu holte er Pony und Wagen bei uns ab und nahm mich gleich mit, um ihm zur Hand zu gehen. Die Särge haben wir an Sammelstellen (z. B. Westerfilder Straße, Zum Luftschacht, Mosselde) abgeladen. Die Trümmer lagen überall herum, es war kaum durchzukommen. Der SA-Mann hatte immer seine Uniform an und trug auch eine Pistole. Der Feind war zu dieser Zeit nur in der Luft (Bomberpiloten).
Bei der Suche und der Bergung der Toten, dem Ausheben der Gräber wurden Fremdarbeiter und Kriegsgefangene aus den beiden Lägern der Zeche Westhausen nach ihrer Arbeit gezwungen. Nach der Meinung der Nazis gehörten sie zum Feind und waren damit mitschuldig am Tod der Bombenopfer.
Bei den Soldaten
Am Ende des zweiten Weltkrieges war ich elf Jahre alt. Viele Kinder in meinem Alter waren nicht zu Hause. Die meisten Mädchen und Jungen aus der Nachbarschaft waren in Baden evakuiert. Bei mir war das anders: Ich war der älteste Sohn und durfte deshalb als Hilfe bei meiner Mutter bleiben.
Dann wurde ich als „Pimpf“ mit anderen Jungen in meinem Alter als Helfer bei der Wehrmacht im Sauerland bei Groß-Drenscheid (ich erinnere mich nicht mehr so genau an den Ortsnamen) eingesetzt. Wir mussten an einer Flugzeug-Flugabwehr-Kanone (FLAK) arbeiten (wahrscheinlich eine 8,8 cm Kanone auf Kreuzlafette).
Zu der Kanone gehörte auch ein FLAK-Scheinwerfer, mit dem bei einem Luftangriff der Nachthimmel ausleuchtetet wurde . – So ein Scheinwerfer stand auch auf dem Bodelschwingher Berg. Der Scheinwerfer war nach dem Kriegsende gesprengt und wir haben ihn in Einzelteilen mit dem Handwagen nach Mengede zum Schrotthändler gefahren. –
Die Kanone wurde von Soldaten bedient, die nicht mehr „fronttauglich“ waren. Die Patronen wurden nach dem Abschuss ausgeworfen und dann von uns eingesammelt und wegtransportiert. Es war eine schwere Arbeit. Unser Einsatz dauerte etwa drei Stunden, dann kam eine andere Gruppe von uns Jungens dran. Nur die Soldaten trugen Uniform; Wir hatten unsere Pimpf-Kleidung an (kurze Hosen). Beaufsichtigt und kommandiert wurden wir von einem Jugendlichen der Hitlerjugend (HJ).
Vor ein paar Jahren schlug ich die Ruhr-Nachrichten auf und sah darin ein Bild von Wehrmachtshelferinnen und Soldaten. Ich war auf einmal „mittendrin“ in den letzten Kriegstagen, an der Kanone. Ich erinnerte mich, dass manchmal Besuch von Frauen und Männern zu den Soldaten in die Flak-Stellung kamen. Die Frauen hatten alle „das Gleiche“ an, wie auf dem Zeitungsbild: Jacke und Rock. Sie taten sehr freundlich. Die Soldaten hatten unterschiedliche Uniformen an. An einen kann ich mich erinnern, der hatte eine schwarze SS-Uniform an, die fand ich schön. Ich sagte zu unseren Soldaten: „Wenn ich groß bin, will ich auch so eine Uniform haben. …
60 – Jahre habe ich an diese Zeit nur in Bruchstücken gedacht und dann sieht man ein Bild in der Zeitung und alles kommt wieder „hoch“.
Heute vermute ich, dass die Frauen Wehrmachtshelferinnen in einem Arbeitslager, Sammel- oder Verteilerlager für Fremdarbeiter (StaLag) oder einem Konzentrationslager waren. Der mit der schwarzen Uniform von der SS (Schutzstaffel) gehörte vermutlich zur SS-Division-Totenkopf.
Dann hieß es: Der Feind kommt. Alle Soldaten, bis auf einen, „setzten sich ab“. Dann kam der Feind, das Gewehr im Anschlag. Unser Soldat hob die Hände über den Kopf; wir Kinder taten das gleiche. Er zitterte vor Angst und wir hätten uns beinahe in die Hosen gemacht. Man hatte uns erzählt, der Feind würde „alle“ umbringen, auch Frauen und Kinder! Welcher Feind jetzt zuerst da war, die Briten (Schotten) oder Amerikaner, das weiß ich nicht mehr.
Ich kann mich noch erinnern, dass auf einmal ein schwarzer Soldat vor mir stand und mir einen Riegel Schokolade anbot. Den wollte ich aber nicht nehmen, so viel Angst hatte ich. Erst als er selbst ein Stück abgebissen hatte, habe ich mir die Schokolade auch schmecken lassen.
Unser Soldat kam in Gefangenschaft. Wir Jungens wurden in der Dorfschule festgehalten, wo wir auch vorher geschlafen hatten. Wir durften auf dem Schulplatz spielen, aber bei Strafandrohung das Schulgelände nicht verlassen.
Nach Kriegsschluss kam mein Opa Steenbruggen von Wischlingen mit dem Fahrrad, um mich abzuholen. Er war Niederländer und als Gärtner und Jagdgehilfe auf dem Gut Wischlingen beschäftigt. Das Gut gehörte zu dieser Zeit dem Bergbau (Zeche Dorstfeld). Auf der Zeche hatte man meinem Opa für das Fahrrad einen Kindersitz gebaut, da brauchte ich nicht auf der „Stange“ zu sitzen. Aus dem Sauerland konnte er mich nur mitnehmen, weil er die „richtigen“ Papiere dabei hatte. Die hatte er vom britischen Kommandanten bekommen. Die britische Besatzungsmacht hatte ihre Kommandantur auf dem Gut in dem Sommerhäuschen des Zechendirektors Dingemann untergebracht. Außerdem half ihm, dass er Niederländer war und sich mit seinem Pass ausweisen konnte. So war ich der erste Junge aus der Gruppe, der wieder nach Hause fahren durfte.
Auf der Heimfahrt kamen wir an verschiedenen Kontrollpunkten vorbei, an denen mein Opa sich ausweisen musste (auch an einer Ruhrbrücke). Nachdem die Soldaten die Papiere geprüft hatten, standen sie vor uns „stramm“ und wir konnten weiter fahren.